Von Christoph Seidler
77 Prozent der deutschen Klinikärzte haben ihren Patienten schon einmal sinnvolle Behandlungen verweigert - aus Kostengründen, wie eine Umfrage der Uni Tübingen ergab. Das Gesundheitsministerium bestreitet, dass das Problem überhaupt existiert.
Tübingen - Niemand ist gern krank. Und wer mit Gesundheitsproblemen im Krankenhaus liegen muss, hofft - natürlich - auf die optimale Behandlung. Eine neue Studie legt nun aber nahe, dass Patienten diese hierzulande längst nicht immer bekommen. Ein Team von Medizinethikern hat im vergangenen Jahr einen Fragebogen an mehr als 1000 repräsentativ ausgewählte Intensivmediziner und Kardiologen verschickt. In der aktuellen Ausgabe der "Deutschen Medizinischen Wochenschrift" berichten die Wissenschaftler von den Ergebnissen - und die sind alles andere als beruhigend.
Chirurgenteam: "Rationierungen sind unvermeidlich - und finden statt!
Von den 507 Klinikärzten, die den Fragebogen beantwortet haben, gaben 77 Prozent an, sie hätten einem Patienten bereits eine sinnvolle Behandlung aus Kostengründen vorenthalten. 13 Prozent erklärten gar, sie täten dies öfter als einmal pro Woche. Bei den Kardiologen lagen die Zahlen höher als bei den Intensivmedizinern (17 Prozent gegenüber 10 Prozent). Befragte an privaten Krankenhäusern berichteten häufiger von der Verweigerung effektiver, aber teurer Behandlungen oder Medikamente. "Rationierungen sind unvermeidlich - und sie finden statt", sagte Georg Marckmann, einer der Studienautoren von der Universität Tübingen, im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE.
Ähnlich hatte sich bereits Ärztekammerpräsident Dietrich Hoppe geäußert: "Wer behauptet, die umfassende Gesundheitsversorgung sei sicher, der sagt schlicht und einfach nicht die Wahrheit", sagte Hoppe im Mai beim Deutschen Ärztetag. Für seine Forderung nach einer Prioritätenliste für medizinische Leistungen musste er sich heftige Kritik gefallen lassen.
Forscher Marckmann stößt sich nicht unbedingt an der Tatsache, dass nicht in jedem Fall die teureren und potentiell besseren Medikamente verordnet werden. Stattdessen beklagt er, dass die Mediziner mit der Entscheidung darüber allein gelassen würden - bei jedem Patienten aufs Neue. "Es hängt sehr davon ab, welche Leistungen vorenthalten werden. Der Arzt soll nicht im Einzelfall entscheiden müssen."
Stattdessen schlagen Marckmann und seine Kollegen sogenannte kostensensible Leitlinien für Mediziner vor. In ihnen sollten neben der Wirksamkeit auch die Kosten eines Medikaments eine Rolle spielen. Mit solchen Leitlinien, so Marckmann, ließen sich Rationierungen auch ethisch begründen: "Weil man Rationierung verteufelt, wird eine konstruktive Diskussion darüber verhindert." Die Politik müsse endlich öffentlich eingestehen, dass nicht genug Geld im System sei. Die aktuelle Studie belege das klar. Allerdings sei es falsch, noch mehr Geld in das ohnehin schon gut finanzierte deutsche Gesundheitssystem zu stecken; nötig seien Entscheidungshilfen.
Nach Meinung der beteiligten Forscher zeigen die Ergebnisse der Studie, dass Ärzte es nicht grundsätzlich ablehnen, Verantwortung für Rationierungen zu übernehmen. Allerdings hätten sich drei Viertel der Befragten für eine generelle Regelung ausgesprochen.
"Ansonsten wäre das ein Fall für die Aufsicht"
Im Bundesgesundheitsministerium löst die Studie wenig Begeisterung aus - kein Wunder, schließlich bemüht sich das Haus von Ulla Schmidt (SPD) tunlichst darum, in der Bevölkerung keine Angst vor einer Zweiklassenmedizin aufkommen zu lassen. Im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE verweist eine Ministeriumssprecherin darauf, dass genügend Geld zur Verfügung stehe: "Die Regierung hat die Mittel sowohl für die ambulante als auch für die stationäre Versorgung in diesem Jahr deutlich erhöht."
Per Pressemitteilung verkündet das Ministerium am Freitag die Erfolge des Gesundheitsfonds. Demnach stehen den Kassen in diesem Jahr rund 167,6 Milliarden Euro für die Versorgung ihrer Versicherten zur Verfügung. Selbst bei vorsichtiger Einschätzung spreche alles dafür, dass die Krankenkassen ihre Kosten zu 100 Prozent decken könnten.
Der Gesetzgeber, so heißt es aus dem Ministerium, habe dafür gesorgt, dass sogenannte leistungsgerechte Budgets für akutstätionäre Leistungen verhandelt werden könnten. Im Übrigen seien Ärzte sogar verpflichtet, medizinisch notwendige Leistungen zu erbringen: "Ansonsten wäre das ein Fall für die Aufsicht."
Mit Material von dpa Spiegel online http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/0,1518,630159,00.html#ref=nldt
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